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19
Mär
17

Karin Reddemann: Schweigeminuten

Gruselgeschichte – Grusel – Spannung – Gänsehaut

Schweigeminuten

© Karin Reddemann

Ihnen fehlten Augen. Die geschlossenen Lider waren es, die anfangs irritierten. Unverkrampft verschlossen zwar, aber ohne Chance, in den Gesichtern lesen zu können. Unheimlich irgendwie. Genial inszeniert. „Die könnten jetzt an alles denken. Gott. Kinder. Leiber aufschlitzen. Ficken.“ Thomas Gregorian kicherte. Ihm gefiel, was er sah. Warten auf irgendwen. Irgendwas. Er betrachtete das Bild genauer. Vermutlich eine spiritistische Sitzung, schätzungsweise in den 30ern gemalt. Die junge Frau, die gemeinsam mit ihm auf den Speicher der alten Villa geklettert war, verzog angewidert das Gesicht: „Scheußlich. Das macht mir Gänsehaut.“ Thomas Gregorian grinste. „Absicht, vermute ich.“ Er hatte Edgar Gregorians Bild von Staub und Spinnweben befreit und hielt es jetzt in Augenhöhe. Gregorian musste es kurz vor seinem Tod gemalt haben. Ein Bruder seines Großvaters, der auf bizarre Art ums Leben gekommen war. Man hatte ihn und seine Frau mit durchtrennten Kehlen vor dem gemauerten Kamin im Erdgeschoss gefunden. Der Mörder wurde nie gefasst, hatte auch nichts gestohlen, war wohl einfach nur hereinspaziert, um Blut spritzen zu sehen, hübsche Fontänen aus weißen Hälsen, die sich auf dem Steinfußboden verloren. Thomas starrte auf das Bild und war beeindruckt. Merkwürdig nichtssagende Szene. Trotzdem fühlte er sich eingeladen, an etwas teilzunehmen, das wichtig zu sein schien. Was war so verdammt wichtig gewesen? Gemeinsam zu träumen, zu hören, zu vögeln? Wer mit wem? Das Bild hatte was, zweifellos. Alle fünf waren elegant gekleidet und tadellos frisiert, die schöne Blonde in rotem Samt, Samt kam hin, die Brünette in moosgrünem Taft. Vielleicht Seide. Die Männer trugen ihr Haar straff nach hinten gekämmt, vermutlich klatschnass und verklebt von zu viel Pomade, aber nur so wirkte es. Sie blickten nicht auf, sahen sich nicht an. Hielten die Lider geschlossen wie im stummen Gebet. Vergruben ihre Augen, deren Farbe für den Künstler wohl bedeutungslos gewesen war, im Leeren. Leer für denjenigen, der es nicht besser wusste. Wissen konnte. Thomas klemmte sich das Bild unter den rechten Arm, durchwühlte mit der linken Hand die oberste Schublade der Kommode, auf der es gelegen hatte. Fingerte eine mit dunkelroten Rosen verzierte bräunliche Schreibkladde heraus, legte das Bild zurück, blätterte hastig, las flüchtig einige Zeilen, ordentlich datiert. Elfter Oktober 1936. Das war die letzte Eintragung. Grundsätzlich logisch. Am zwölften wurden Edith und Edgar Gregorian vor dem Kamin von einem Wahnsinnigen abgeschlachtet. Danach lief natürlich nichts mehr. Thomas war begeistert. „Ich glaub’s nicht. Sieh Dir das an, Lisa. Das gehörte meiner Großtante.“ Lisa Thössen, die sich auf dem dunklen Speicher zusehends unbehaglicher fühlte, verschränkte die Arme vor der Brust. „Und?“ „Was und?“ Er klang ärgerlich. „Das ist Familie, Mann! Meine verdammte Familie. Cosa nostra, Du verstehen? Das nehm ich mit.“ Er drehte sich um. Sprach offensichtlich mit der Wand, verdrehte abgenervt die Augen, griff wieder nach dem Bild, steckte die Kladde umständlich in den Bund seiner Jeans. Lisa war schon auf dem Abstieg, tastete sich mit ihren Füßen, die in unpraktischen hochhackigen Sandalen steckten, vorsichtig nach unten. „Die Schlampe ist nicht mehr lange“, dachte er und folgte ihr. Sah sich in einem imaginären Spiegel verschwinden, verharrte kurz auf der dritten Sprosse, die gefährlich knarrte, fühlte ein leichtes Schwindelgefühl, spürte unsinnige Panik in sich aufsteigen. Großer Gott, WAS war das? Hatte er das wirklich gesagt? Nein, gesagt nicht. Nicht gesagt. Gedacht. Er hatte gedacht: Die Schlampe ist nicht mehr lange. Er brauchte dringend Luft. Hier roch alles nach Gestorbenem. Moder und sonst was. Eklig. Witterte das kleine entzückende Luder das auch? Er grinste wieder, konnte nicht anders, schüttelte sich, stieg hinunter.

Gegen zweiundzwanzig Uhr am Tag seines göttlichen Fundes auf dem Speicher der alten Villa seiner Großeltern Friedelgund und Herbert Gregorian war die süße blonde Freundin von Thomas Gregorian tot. Ihr zartes junges Gesicht war von einer Axt in zwei Hälften geteilt, jede für sich recht hübsch, aber unfähig, weiterzumachen. Geschah ihr recht. Was hatte sie sich einzumischen?

Thomas saß mit geschlossenen Augen vor dem Kamin und hatte das gemütliche Prasseln des Feuers im Ohr. Herrlich! Das Bild hing über dem schweren Schreibtisch, auf dem sein Laptop wie eine exotische Pflanze in einem Meer von Gänseblümchen wirkte. Gänseblümchen, wie sie bereits eine kleine Edith, ein kleiner Edgar gepflückt hatten, stolz, mit hochroten Wangen, der Mutter geschenkt, die nichts damit anzufangen wusste und sich trotzdem freute, sie in ein Wasserglas stellte, es auf dem Küchentisch platzierte, um zuzuschauen, wie sie langsam starben. Edith Gregorians Tagebuch lag auf seinen Knien, er hatte es zweimal gelesen, es war nicht schwierig, sie hatte in Druckbuchstaben geschrieben, warum auch immer.

10. November 1933: Trotz der Bedrohnis, die ich überall spüre, ahne, dass Schlimmes passieren wird, weil alles so trügerisch gut ist. Atme auf. Glücklich. Habe vor drei Tagen entbunden. Engelbert Siegfried heißt mein Gottesgeschenk. Edgar ist außer sich vor Freude (…)

17. Dezember 1933: Edgar hat mir Valentin von Fetzow vorgestellt. Groß, sehr schlank. Ausgesprochen belesen. Ein faszinierender Mann, durchaus. Er sieht mich unentwegt an mit seinen grauen Augen. Seine Wimpern sind zu lang und zu schwarz für einen Mann. Zu schön. Er ist mir unheimlich (…)

28. Dezember 1933: Werde Edgar bitten, Valentin von Fetzow nicht mehr einzuladen. Er macht mir Angst. Er will, dass Edgar ihn malt. Er sagt, das sei für ihn ein Jungbrunnen. Wie kann ein Bild derartiges sein? Er spricht von Tantalus, ich kenne diese Geschichte, süße Früchte, labendes Wasser, nie erreichbar, quälend, abscheulich. Er sagt, so würde es ihm nicht ergehen, das könnte niemand mit ihm machen, kein Gott, kein Teufel. Er irritiert mich (…)

15. Januar 1934: Edgar ignoriert meine Bitte. Valentin von Fetzow hat mir etwas in mein Poesiealbum geschrieben, ich einfältige Romantikerin besitze es noch, er war amüsiert, weil ich verlegen wurde. Er wollte es sehen, Edgar war erheitert, er nannte mich „mein dummes süßes Frauchen“. Ich holte es, wohl rot vor Scham, wohl auch vom Wein, den Valentin von Fetzow uns mitgebracht hatte. Eine staubige, alte Flasche mit einem Korken, der zu fest saß, um in unserem Jahrhundert hineingesteckt worden zu sein. „… und lasse Dich bannen mit Öl auf Linnen, und schmecke ihren Geist und labe Dich, dann lebe ewig.“ Ich verstehe das nicht. Warum schreibt er so grausam? (…)

27. Februar 1934: Valentin von Fetzow ist nach Italien gereist. Vielleicht kommt er nicht zurück. Ich werde Edgar sagen, dass ich ihn nicht wiedersehen will. Gott vergebe mir meine unreinen Gedanken (…)

25. April 1934: Ich habe gesündigt, sollte mir die Augäpfel herausreißen, die Locken schneiden, kurz, hässlich, ich habe es verdient. Er war hier. Allein. Meine Brüste, so hart, so gut, gehörten ihm. Mein Schoß. So nass, voller Freude. Ich habe ihn geschmeckt, meine Lippen haben ihn gesaugt. Die Hölle. Gott, sei gnädig. Sei streng. Edgar weilt in Bad Oeynhausen, der Gute, der Teure. Soll nichts erfahren, nichts wissen. Und doch. Tötet er mich, soll es so sein (…)

15. Mai 1934: Mein Herz schreit nach ihm. Edgar ahnt nichts. Er wird zurückkommen. Im Herbst. Edgar will ihn malen. Ich will ihn. Will ihn. Sündiges Fleisch. Ich kann es nicht ändern (…)

11. Juli 1934: Valentin war bei mir. In mir. Ich spüre ihn, rieche ihn noch immer, will mich nicht waschen. Noch nicht. Edgar lag zu Bett, er fiebert, nimmt nur Tee und trockenen Zwieback zu sich. Ich kümmere mich. Als er schlief, habe ich Valentin meine Brüste gezeigt. Er wollte aus meinen Warzen trinken. Ich zittere, wenn ich an seine Bisse denke (…)

19. September 1934: Valentin, süßer Valentin. Er hat sich verändert. Brachte ein Buch mit. Konstantin von Fetzow. 1862. Hat es in einem römischen Antiquariat gefunden. Ein scheußliches Buch mit einer Dämonenfratze. Er sagt, es sei ein Wegweiser. Mehr sagt er nicht. Hat es nur gezeigt. Mehr nicht. Will jetzt doch noch nicht gemalt werden. Sagt, es müsse wohl sein. Müsse aber später sein. Edgar weiß nicht, wie unruhig ich bin. Spürt er es? Lass mich besser sterben, Gott (…)

8. Oktober 1934: Es wächst. Valentins Sohn. Ich weiß, dass es ein Junge ist. Ich bete das Ave Maria, ich bin mit dem Dreck unter meinen Schuhen verwachsen. Edgar freut sich. Ich übergebe mich, behalte nichts bei mir, wische mir den Mund ab und lächle ihn an. Armer Edgar. Valentin ist kühl zu mir. Er betrachtet meinen Bauch und sieht mich ernst an. Er weiß es. Ich weiß es. Er wirkt blasiert. Er ist nicht ehrlich. Mir wird kalt, wenn sein Atem mein Gesicht streift. Ich will, dass er mich berührt. Er will es nicht mehr. Er hat bekommen, was er wollte. Grausam, grausam ist er. Fühle mich beschmutzt. Bin schmutzig. Unrat bin ich. Nachts schreie ich vor Lust, bleibe aber stumm, berühre mich unsittlich, während Edgar, der Gute, neben mir träumt. Wovon träumt er? Will ich es wissen? (…)

19. November 1934: Valentin hat geschrieben. Ein Brief nur für mich. Habe ihn verbrannt. Er will meine Liebe nicht. Nur meine Frucht. Selbst die sei nichts wert, sagt er. Er muss warten. Fühle mich gefangen im Bösen. Möchte mir den Leib aufschlitzen. Will schlafen. Vergessen. Kann nicht. Fürchte Gottes Zorn. Fürchte Edgar (…)

11. Januar 1935: Mein Sohn ist zuhause. Habe ihn Konstantin genannt, weiß nicht, warum. Wollte ihn Herbert nennen, nach meinem Patenonkel. Weiß nicht, warum. Konstantin. Er hat graue Augen. Valentins Grübchen im Kinn. Edgar, der Tor. Sieht nichts. Besser so (…)

17. März 1935: Valentin liebt ihn nicht. Unsauber sei er, sagt er. „Der Nächste, der kommt, der wird es sein.“ Sagt er und schüttelt mich ab, will nicht umarmt, nicht liebkost werden. Fühle mich entsetzlich. Bin hässlich. Will sterben und doch nicht. Warum der Nächste? Es wird kein Kind mehr geben mit Valentin. Er weist mich von sich. Meine Brüste beben. Brüllen nach ihm. Er sagt kein Wort (…)

25. Mai 1935: Fühle keine Wärme. Als sei er nicht mein Kind. Meine Brust will er nicht. Ich singe ihn in den Schlaf und weine. Habe das Gefühl, dass er nicht um seiner selbst willen auf dieser Welt ist. Weiß nicht, warum. Seine Augen sind tot. Will ihn lieben. Kann nicht. Konstantin sollte nicht sein. Ich weiß, dass es falsch war. Was wird? Zittere. Fürchte mich (…)

24. Juli 1935: Träume von Valentin. Höre seinen Atem. Er streift mein Nachthemd hoch und streichelt meine feuchten Schenkel, fährt höher, beiße mir die Lippen blutig, gebe keinen Laut von mir (…)

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19
Mär
17

Karin Reddemann: Langeweile

Gruselgeschichte – Grusel – Spannung – Gänsehaut

Langeweile

© Karin Reddemann

Ich fühle mich gelangweilt, das ist kein befriedigender Zustand. Deshalb habe ich beschlossen, ein paar Leute umzubringen. Es werden keine unschuldigen harmlosen Passanten sein, so krank bin ich nicht, obgleich der eine oder andere, was sage ich, verdammt viele es verdient hätten, grinsend brutal sauber eliminiert zu werden. Diese grenzenlose Blödheit um mich herum macht mich aggressiv.

Kein Thema jetzt, die kommen vielleicht später dran.

Ich habe eine Liste aufgestellt mit Namen von Personen, die mich ärgern. Und überlege, wie genial ich sie um die Ecke bringen könnte.

Es ist eine meiner schlaflosen Nächte, ich kraule meinen Hund, der immer wach ist, wenn ich es auch bin, er glaubt dann, ich würde mit ihm um drei Uhr nachts im luftigen Hemd und barfüßig fröhlich durch den dunklen Wald laufen oder ihm zumindest Schokolade geben. Das mache ich natürlich nicht. Er hat Zahnstein und zugenommen, da muss ich streng sein, zudem habe ich um diese Zeit keine Lust, halbnackt mit ihm zu wandern und zu frieren. Angst hätte ich nicht. Ich bin böse und stark. Vielleicht auch nur bedingt, aber ich brauche Abwechslung und Rache.

Mein Hund glotzt mich doof und misstrauisch an, die Ohren herunter geklappt, kein Schwanzwedeln, weil ich keife: „Ich töte euch. Alle.“

Vermutlich denkt er, so schräg, wie er immer denkt, ich hätte es auch auf ihn abgesehen, er ist eine Schissbuxe, beim geringsten Lärm schwant ihm, jetzt gleich und auf der Stelle abgeknallt zu werden. Also reibe ich ihm den Schlaf aus den schwarzen Augen und gebe ihm Lakritz und gefüllte Oliven, ich will ihn beruhigen, er ist nicht mein Opfer. Inkonsequent bin ich, aber er guckt hungrig und traurig. Und ich will morden.

Ich sitze hier, rauche, trinke Rotwein, bin wütend und trotzdem recht erheitert, es ist verflucht spät, und meine Liste steht.

Namen verrate ich nicht.

Da ist eine ehemalige Freundin, die mir den Spaß an Gemeinsamkeit versaut hat, die ist dran. Ich werde ihr die fetten Brüste abschneiden, das tut mit Sicherheit weh, und dann die freche laute Zunge herausreißen, bevor ich ihr gnädig die Kehle durchtrenne.

Das mache ich.

Der Ex meiner Schwester wird definitiv einige Schmerzen haben. Ich pack mir seine Eier, die halte ich kurz in meinen Händen, dann rupfe ich sie ihm ab, ich habe Kraft, und werfe sie in sein bescheuertes Aquarium. Die Fische glotzen und knabbern, er schreit, weil ich ihm die Finger abhacke, ich bin ungerührt, zudem ist er gefesselt, der Idiot, was lässt der auch mit sich machen, war mal geil auf mich, jetzt wohl nicht mehr. Ich steche ihm in den Bauch und in die Lunge, habe ein prima Messer dabei, so langsam wird er wohl krepieren.

Dieses Arschgesicht von Nachbar verbrenne ich. Zugegeben, das ist unschön. Der ist sowieso ständig besoffen, da lege ich Feuer, der bekommt nichts mit und weg. Zahlt meinen Eltern keine Miete und posiert in Lederhosen und mit Brilli im Ohr.

Der Rest ist Schweigen. Mehr sage ich nicht.

Langweilig ist mir immer noch.

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19
Mär
17

Karin Reddemann: Das Klopfen der Edeltraud Finnisch

Gruselgeschichte – Grusel – Spannung – Gänsehaut

Das Klopfen der Edeltraud Finnisch

© Karin Reddemann

Beschwören würde ich es nicht, aber ich vermute, dass Edeltraud Finnisch sich am Tag ihrer Beerdigung auf dem Wiltruper Friedhof einen kleinen Spaß mit mir erlaubt hat. Sie war endlich tot, und ich fühlte mich einfach nur erleichtert, dass alles vorbei zu sein schien. Bis sie klopfte.

Natürlich passte das Ganze zusammen, natürlich passte es vor allem zu ihr, sich auch noch als Leiche in meinen Verstand einzumischen. Sofern sie überhaupt im klassischen Sinn eine war. Sie war wohl keine. Und ist es vermutlich immer noch nicht.

Tatsächlich wäre ich niemals ernsthaft auf die absurde Idee gekommen, sie wieder zu hören, zumindest nicht so schnell. Vielleicht aber wollte es nur vor mir selbst nicht zugeben, auch weiterhin mit dieser Angst leben zu müssen, die einen genau dann eiskalt erwischt, wenn man beginnt, seine alten Alpträume wie ein Blatt Papier an ein Streichholz zu halten. Es erlischt zu früh, und ein zweites ist nicht zur Hand.

Wenn es so war – und es war so -, ich meine, wenn also Edeltraud Finnisch an diesem schwülen Sommertag mit ihren Fingerknöcheln von unten gegen den hölzernen Sargdeckel klopfte, um mich daran zu erinnern, dass sie mehr, sehr viel mehr wusste als ich, dann habe ich ein durchaus reelles Problem. Keins von der eher unschuldigen Sorte, die ein ansonsten vernünftig denkender Erwachsener manchmal hat, wenn es dunkel ist und sich Kindheitserinnerungen eigenartig verzerrt als persönliche Dia-Show im Kopf abspielen.

Wenn es dunkel ist und man selbst noch klein und offen für alles, wird aus der strengen alten Frau nebenan sehr gern und sehr schnell eine böse Hexe, die einem noch viele Jahre später den kindlichen Glauben an ihre Existenz lassen kann. Dann klopft sie plötzlich wieder, irgendwann, und obgleich man grundsätzlich längst schon recht ordentlich erwachsen ist, glaubt man in ungeschützten, einsamen Nächten an dieses Klopfen, glaubt tatsächlich es zu hören. Und ist sich sicher, dass es der Tod ist, der sich meldet.

Am helllichten Tag funktioniert das im Normalfall nicht, da läuft alles geregelter ab. Meist auch ungefährlicher, was Dinge betrifft, die gar nicht wahr sein dürfen, zumindest bei Licht betrachtet. Da man geht zum Bäcker, lässt den Hund in der Mittagspause pinkeln, äfft heimlich den Chef nach, verflucht das Telefon und trinkt Espresso beim Italiener um die Ecke. Ansonsten freut man sich auf guten Sex am Wochenende, der ruhig mal ausgefallener sein könnte, auf trockenen Weißwein beim Franzosen und eigene Kinder, irgendwann vielleicht, wenn nicht, auch nicht tragisch. Hauptsache, das Brot wird nicht teurer und es regnet es nicht. Und Tote sind und bleiben tot und klopfen nicht, um sich Gesellschaft zu holen. Tun sie es doch, ist irgendwas schief gelaufen im Paradies. Vielleicht auch in der Hölle. Ich bin da nicht ganz so optimistisch.

Edeltraud Finnisch, verwitwet und kinderlos mit fetter gelber Katze, gehörte das Haus, in dem meine Eltern, Bolle und ich wohnten. Backstein, asphaltierter Innenhof und schmuckloses Vorgärtchen, nicht schön, aber urig, wie man wohlwollend sagt, ohne zu viel von seinem Geschmack zu verraten. Im ausgebauten Dachgeschoss teilten sich zwei dicke unsichtbare Schwestern dreieinhalb Zimmer. Die beiden bekam ich so gut wie nie zu Gesicht, bis die eine, für mich mit meinen knapp zehn Jahren erstaunlicherweise jüngere, von zwei kräftigen Kerlen abgeholt wurde.

Maria Johannssen steckte in einem monströsen weißen Sack mit Reißverschluss, nicht einmal eine Haarsträhne oder der kleine Finger lugte hervor, und ihre dicke Schwester stand heulend an einer Art Lieferwagen, bis ihr runder großer Kopf so rot angelaufen war, dass ich befürchtete, er würde gleich platzen. „Das Herz“, sagte Edeltraud Finisch zu meiner Mutter, „bei dem Gewicht“, und die nickte stumm, als wäre ihr völlig klar gewesen, dass es so kommen musste. Ich klammerte mich an die Hand meiner Mutter, sah den Sack auf der Trage im Auto verschwinden und warf Frau Finnisch einen bösen Blick zu.

Mein Blick war nur kurz und vermutlich nicht wirkungsvoll genug, weil sie ihn nicht zu registrieren schien. Ich wagte ihn auch nur, weil kein Holz in Reichweite war. Sonst hätte sie vielleicht für mich geklopft. Wie für Wilfried Kattmann und Opa Gustel.

Zwei Tage vor dem Tod der jüngeren Schwester Johanssen hätte mein Bolle auch dran glauben sollen. Da hatte die Hexe sich wohl zum ersten Mal im Takt verirrt. Oder aus Langeweile mit mir ein Spielchen ausprobiert.

Zu Finnischs Wohnung gehörte ein recht winziger Balkon mit Blick auf den Apfelbaum hinter dem Haus. Rote Hängegeranien im späten Frühjahr, weiße Eriken im Herbst. Und dieser hässliche gelbe Kater, der durch die hölzernen Latten der Balkonverkleidung auf den Innenhof glotzte. Tagaus, tagein glotzte er. Wenn ich hochblickte, trafen sich unsere Augen, nie fraß oder schlief er, als würde er sich das aufsparen für die Zeit, in der ich nicht in Sichtweite war. Er hockte oder lag auf dem Schemel vor dem Korbsessel, in dem Frau Finnisch mit ihrer Blümchentasse thronte, bevor sie sich erhob um mitzugucken, und beobachtete mich.

Es machte mich nervös, wie dieser Kater glotzte. Noch nervöser machte mich das Klopfen seiner Herrin, das ich zum ersten Mal an diesem verregneten Herbsttag wahrnahm, an dem der graue klatschnasse Vogel vom Himmel fiel.

Ich ging erst seit wenigen Wochen zur Grundschule und war recht erfolglos damit beschäftigt, die Buchstaben auf dem vergilbten Reklameschild für irgendein längst ausgestorbenes Bier zu entschlüsseln, das in Schieflage am Geräteschuppen unter dem Apfelbaum hing. Und plötzlich hörte ich sie klopfen. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah zu ihr hoch, fragend und so ungehalten, wie auch kleine Menschen sein können, wenn sie bei etwas Wichtigem gestört werden. Sie lehnte steif auf der Balkonbrüstung, starrte mich an und bewegte kurz ihre Lippen, freilich lang genug, um ein stummes Helena von ihnen ablesen zu können. Sie nannte meinen Namen, so wahr ich es erzähle. Dabei klopfte sie mit den Fingerknöcheln der linken Hand gegen das Holz. In der rechten hielt sie ihre Tasse, die war beschäftigt mit dem Profanen des Lebens. Die linke klopfte den Tod herbei.

Der Vogel fiel mit einem dumpfen Geräusch von irgendwo oben direkt vor meine Füße und lag dort wie hastig ausgestopft. Zuerst dachte ich, er sei versehentlich vom Baum gestürzt und in eine leichte Ohnmacht gefallen. Für einen Moment vergaß ich Frau Finnisch, blickte verstört auf den kleinen Körper am Boden und stupste ihn vorsichtig mit den Kappen meiner Gummistiefel an. Nichts. Zweifellos lebte er nicht mehr. Ich sah wieder hoch, um etwas zu sagen, vermutlich zu fragen, was auch immer. Aber sie war weg. Nur der Kater hatte sich nicht vom Fleck gerührt und gähnte, ohne mich aus den Augen zu lassen.

Als Edeltraud Finnisch nur wenige Tage später erneut klopfte und wortlos von mir verlangte, zum Balkon zu schauen und sie anzusehen, damit sie den Kopf schütteln und meinen Namen flüstern konnte, fand ich unter der Bank vor dem Geräteschuppen das Kaninchen. Es musste sich vom nahe liegenden Friedhof aus, den ein buckliger, von gewaltigen Brennnesselsträuchern umsäumter Hohlweg von unserem eingezäunten Innenhof trennte, direkt unter die Bank verirrt und beschlossen haben, dort zu sterben. Eine andere, vernünftigere Erklärung gab es nicht. Das Kaninchen schien spontan, wie aus einer ungewöhnlichen Laune heraus umgefallen zu sein, es war nicht verwundet und sah aus, als würde es nur tief schlafen. Zu tief. Es atmete nicht mehr. Einfach so. Wie die junge Katze, die mit heraus gestreckter Zunge, alle vier Pfoten kerzengerade von sich gestreckt, auf der obersten Stufe der Kellertreppe lag und sich nicht mehr rührte.

Der Keller befand sich direkt unter dem Balkon, von dem aus Frau Finnisch mit ihrer Tasse in der rechten Hand auf mich gewartet hatte um zu klopfen, der gelbe Kater an ihrer Seite, der wachsam glotzte. Er glotzte, um sich nicht entgehen zu lassen, wie auch ich erst hochsah, fragend, bereits ahnend, Frau Finnisch ansah, ihn ansah, dann zu einer Seite blickte, zur anderen, auf den betonierten Sockel neben den Tulpen, zuletzt auf die Treppe. Ich wusste sofort, dass die Katze tot war, und irgendwie machte ich mir keine Gedanken mehr darüber, wie so etwas hatte passieren können. Sie erinnerte mich an eines meiner Schlummertiere, so unschuldig, so schön und weich Ich weinte nicht. Ich war acht Jahre alt und kannte eine Hexe, die nur klopfen musste, um töten zu können.

Edeltraud Finnisch war wie Lillifee im Märchen, die nur in die Hände zu klatschen braucht, und ihr wird von unsichtbaren Dienern alles gebracht, was sie will: Schokolade, Eiscreme, ein Pferd, ein schmucker Jüngling. Nur war Frau Finnisch keine goldgelockte klatschende Prinzessin, sondern eine böse alte Frau, die oft und gern klopfte. Auch für Insekten, manche so winzig, dass ich vielen der kleinen toten Körper, die ich unter den welken Blumen, auf den Steinen, neben dem Schuppen im Innenhof fand, vermutlich gar nicht solch eine Bedeutung beigemessen hätte. Ich litt. Und ich hatte eine Wahnsinnsangst vor ihr. „Die Finnisch hasse ich“, sagte ich zu meiner Mutter. Die war beschäftigt, womit auch immer, auf jeden Fall nicht mit mir. Sie sagte nur: „Hör auf damit. Außerdem heißt es Frau Finnisch.“

Manchmal kniff ich für einen flüchtigen Moment die Augen fest zusammen, wenn ich sie klopfen hörte, so, als könnte ich blind verhindern, was sowieso passierte.

Es ging so weit, dass ich mich als ihre unfreiwillige Helferin fühlte, die sie sich kaltschnäuzig auf ewig ausgesucht hatte. Nach dem Tod von Wilfried Kattmann sah ich in mir endgültig die leibhaftige Verbündete eines als Mensch verkleideten Monsters, das von den Nachbarn freundlich gegrüßt wurde. Dort draußen, wo alle unbekümmert ihr Lächeln an jeden verschenken, galt Edeltraud Finnisch als, wenn auch wortkarg, so doch höflich, anständig, ordentlich. Eben die nette Frau von nebenan.

Wilfried Kattmann war mein Lehrer, ein sportlicher großer Mann mit Sommersprossen, Mitte, Ende dreißig, wie ich ihn heute, als Frau, schätzen würde. Als Kind war er für mich bereits ziemlich alt, so wie mein Vater. Aber sicher nicht alt genug, um einfach auf der Aschenbahn der Wiltruper Sportgemeinschaft umzukippen wie eine dieser batteriebetriebenen Laufpuppen, denen aus heiterem Himmel der Saft ausgeht. Niemand konnte sich das erklären. „Der war doch gesund. Kerngesund. So sympathisch. So jung. Wirklich, wirklich viel zu jung.“

Alle waren fassungslos. Ich nicht. Ich wusste es besser.

Kattmanns Tod war beschlossen, als ich mich für ihn in meinem dritten Grundschuljahr auf unserem Hof mit der Wäscheleine abkämpfte, die ich mit dem Segen meiner Mutter für ein recht passables Springseil zerschnitten hatte. Mein Training für Kettmanns Turnstunde am nächsten Tag in der Schule war lächerlich. Meine Füße funktionierten nicht richtig, und das Seil verhedderte sich in meinem Rocksaum und in meinem Pferdeschwanz. Ich war wütend auf mich, und als ich Edeltraud Finnisch klopfen hörte und mechanisch nach oben zu ihrem Balkon sah, wo sie kopfschüttelnd klopfte und lautlos meinen Namen über ihre Lippen kommen ließ, wurde ich noch wütender. Auf Frau Finnisch, die ihre runden kleinen braunen hässlichen Zähne zeigte, um mich auszulachen. Auf ihren glotzenden gelben Kater, der mich Trampel von seinem Schemel aus gähnend beobachtete. Und auf Kettmann, der von mir das Unmögliche verlangte, einfach nur sportlich zu sein.

Das war ich nie. Besonders beliebt auch nicht. Es kränkte mich, bei der Mannschaftsauswahl immer zum kläglichen Haufen zu gehören, der bis zum Ende wartet. Bis man ihn auswählen muss, weil die Besten, Schönsten, Stärksten bereits ihren Platz haben. Das sollte in meinem Leben auch so bleiben.

Natürlich lachte Frau Finnisch nicht wirklich, als sie, vermutlich wahllos, für einen Unbekannten an die hölzerne Balkonverkleidung klopfte. Für Wilfried Kettmann, der an diesem Spätnachmittag im Wiltruper Stadion seine Runden drehte, immer montags, mittwochs und freitags. Es war ein Mittwoch, als er sich an seine Brust griff, dorthin, wo es ordentlich im Rhythmus schlägt, wenn man gesund ist. So kerngesund. So sympathisch. So wirklich noch viel zu jung. Er war es. Und fiel hin, mit dem Gesicht nach vorn in die rote Asche, die Zunge herausgestreckt wie die junge Katze auf der Kellertreppe, so stellte ich es mir vor, fiel hin und starb.

Wir erfuhren vom Tod unseres Lehrers am Donnerstag in der Schule. Der Turnunterricht wurde abgesagt.

Ein halbes Jahr nach dem zweiten großen und letzten Schlaganfall meines Großvaters versuchte Edeltraud Finnisch, auch Bolle herbeizuklopfen. Mag sein, etwas halbherzig. Das war zwei Tage bevor die dicke Schwester Johannssen aus unserem Haus getragen wurde. „Das Herz. Bei dem Gewicht. Tragisch, tragisch.“

Ich glaubte kein Wort. Maria Johannssen hat schlichtweg Pech gehabt, weil Frau Finnisch eine Leiche wollte. Bolle hat sie nicht bekommen. Doch nicht gewollt. Vielleicht.

Die arme Seele Johannssen möge mir verzeihen, aber ich war dankbar, dass mein Hund davongekommen ist. Ich liebte ihn. Sie liebte ich nicht, wie auch. So einfach ist das.

An diesem Tag im Spätherbst 1988, ich war zehn Jahre alt und hatte die Schule gewechselt, saß ich mit einem Buch auf der Bank vor dem Geräteschuppen, ignorierte die starren Blicke des Katers auf seinem Schemel, die meine Augen beim Lesen jucken ließen, obwohl ich selbst beim Umblättern der Seiten vermied, kurz hochzuschauen, ihn anzusehen, sie zu sehen. Ich ahnte, dass Frau Finnisch ganz in der Nähe war. Sie würde lautlos den Balkon betreten, einen Schluck Kaffee trinken – mag sein, in ihrer Tasse befand sich tatsächlich etwas ganz anderes – und dann würde sie mit den Fingerknöcheln der linken Hand gegen die Holzlatten der Verkleidung klopfen, würde starren, meinen Blick finden und Helena sagen, so leise, dass, wenn überhaupt, nur der Kater ein kleines Flüstern in den Ohren gehabt hätte.

Ich saß dort recht angenehm auf meiner Strickjacke, die ich ausgezogen und als Kissen auf die harte Bank gelegt hatte – der Sommer bummelte immer noch, es war zu warm für die Jahreszeit -, hielt mein Buch in Brusthöhe, der Kopf tief gesenkt, las und wartete. Horchte. Witterte.

Konzentrieren konnte ich mich in dieser Situation nicht. In dem Moment, in dem ich beschloss, dass es besser sei, auf meinem Zimmer weiterzulesen, besser für irgendwas, irgendjemand, besser für mich allemal, klopfte es. Ich sah nicht auf. Sie klopfte wieder. Ich sah nicht hin. Dachte nur, was die jetzt wohl sagen würde, hätte sie sich nicht vorgenommen zu schweigen. „Guck doch mal, ganz kurz, wirklich ganz kurz nur, Helena, bist doch ein braves Mädchen.“

Ich sprang auf, das Buch fiel mir herunter, die Jacke blieb, wo sie war, ich wollte einfach nur weg. Anstatt jedoch ins Haus zu rennen, was logischer gewesen wäre, lief ich am Hintereingang und an den grauen Abfalltonnen in der Einfahrt vorbei geradewegs zur Straße. Und sah Bolle, der wie ein verstörtes Kind mitten auf der Fahrbahn stand und im Begriff war, Selbstmord zu begehen. Es war Feierabendverkehr, die Straße war dicht, jemand hupte, dann noch einer, ein Mann brüllte etwas wie: „Was hat der verrückte Köter da zu suchen?“

Als Bolle mich sah, legte der dumme alte liebe Kerl den Hechtsprung seines Lebens hin. Er flog wie ein junger Hund ohne Angst und lahme rechte Hinterpfote an den Autos vorbei direkt vor meine Füße und in meine Arme.

Ich stellte ihn mir tot vor, plattgefahren, überrollt. Voller Blut, die Augen und die Schnauze noch halb geöffnet, als wollte er mir sagen, stopp, das gilt nicht. Es galt auch nicht. Ich drückte ihn fest an mich. Er lebte noch schöne fünf Jahre. Der dicken Schwester Maria Johannssen waren noch zwei kümmerliche Tage vergönnt. Einer verliert immer.

Für meinen Großvater Gustel war die Zeit vielleicht tatsächlich gekommen, er war sehr alt und krank und müde. „Ich denke, er möchte schlafen, nur noch schlafen und träumen“, sagte meine Mutter. Dann weinte sie und streichelte mir über das Haar. „Wir müssen ihn bald loslassen, Helena.“ Ich verstand, wischte ihr mit der Handfläche die Tränen weg und nickte ernst. „So ist das eben.“ Ich war, als ich das sagte und sie dabei anlächelte, als sei sie das Kind und ich die Mutter, etwas erschrocken über meine nüchterne Reaktion. Aber ich kannte eine Hexe, ich kannte den Tod. Und ich wusste, dass jeder irgendwann an der Reihe ist.

Mein Großvater überlebte seinen zweiten Schlaganfall nicht. Kurz vor dem Anruf aus dem Pflegeheim ganz in unserer Nähe, in dem er seit einigen Monaten untergebracht war, – es war ein schönes, gemütliches Heim, in dem viele liebe müde Menschen noch zu wach für das Loslassen waren – stand ich auf unserem Innenhof im Regen und fing mit geöffnetem Mund die Tropfen auf. Es war ein albernes Spiel, das ich auch ohne das Klopfen der Edeltraud Finnisch beendet hätte. Ich blickte hoch und wartete ihr Helena ab. Dann spuckte ich aus und ging ins Haus. Als das Telefon nur zwei, drei Minuten später klingelte und meine Mutter mich ansah, bevor sie nach dem Hörer griff, sagte ich: „Opa ist tot.“ So war es.

Edeltraud Finnisch starb in der Nacht vom 11. auf den 12. Mai 1994. Sie starb still, wie sie auch gelebt hatte, und hätte ich meine Eltern nicht gebeten, mit dem Zweitschlüssel, der unter der scheußlichen fleischigen Topfpflanze im Treppenflur für alle Fälle versteckt war, gemeinsam mit mir nach ihr zu sehen, wäre sie wahrscheinlich noch eine ganze unbemerkte Weile lang ausgestreckt auf dem Rücken im Badezimmer liegen geblieben, mit dem Kopf auf der Matte vor dem Waschbecken, die Beine ordentlich nebeneinander. Als hätte sie sich selbst in Position gelegt. Die grauen dünnen Locken schienen unmittelbar zuvor zurechtgezupft worden zu sein, sie umrahmten fast apart den kleinen strengen Kopf, nur eine Zahnpastaspur im Mundwinkel hatte sie wohl übersehen. Der Wasserkran lief noch, sie trug Pantoffeln mit Blümchenstickerei und ein gehäkeltes Nachtjäckchen, Die Augen waren geschlossen, die Hände, ich glaubte es kaum, wie zu einem letzten frommen Gebet auf der flachen Brust gefaltet. „Sie sah so friedlich aus“, sagte meine Mutter später, und mein Vater sagte: „Ein sauberer Tod, irgendwie.“

Am 10. Mai hatte ich Gerald kennengelernt und mich mit ihm für den Abend des nächsten Tages verabredet, Pizza, Kino, Irish Pub, der angesagt war, eben das klassische Programm. Am Spätnachmittag pflanzte ich auf dem Hinterhof noch Blumen in die Balkonkästen meiner Mutter, machte es hastig, weil ich mich noch duschen und umziehen musste. Ich hockte recht unbequem auf den Steinplatten neben dem Sack mit Erde, das Unkraut in den Ritzen bot nur bedingt ein Polster für meine Knie, aber ich war zu faul, mir ein altes Kissen zu besorgen, dachte lieber an Gerald und vielleicht an uns zwei. Und dann dachte ich an sie, spürte diesen harten Kloß in meinem Hals und war mir sicher, dass sie längst schon da war. Ich spürte ihren Blick im Nacken, ohne aufsehen zu müssen, ich wusste, wie sie dort stand auf ihrem Balkon an der Brüstung, ich wusste, warum sie dort stand. Sie wollte mit mir über den Tod plaudern, ein kurzes stummes Gespräch nur, wie ich es gewohnt war, und der Kater würde glotzen und gähnen wie immer, wenn seine Herrin ihr Urteil flüsterte.

Sie klopfte. Ich drehte mich um, sah zu ihr hoch, es hätte nichts geändert, etwas anderes zu tun, sie hatte geklopft, geschehen würde etwas, irgendetwas, so oder so. In diesem Moment vergaß ich, jung und hübsch und frisch verliebt zu sein. Alles, was ich mir wünschte, war, diesen Jungen, den ich erst wenige Stunden kannte, retten zu können, sei es für den Preis, ihn niemals wieder küssen, berühren, fühlen zu dürfen, sei es für den Preis, selbst sterben zu müssen.

Ich will ehrlich sein. Wäre ich tatsächlich vor die Wahl gestellt worden, über sein oder mein Leben zu entscheiden und einen von uns opfern zu müssen, hätte ich auf ihn gezeigt. Aber an diesem Samstagnachmittag war ich im entscheidenden Augenblick bereit, Edeltraud Finnisch bestimmen zu lassen, wen es treffen sollte.

Sie wählte sich selbst. Am 12. Mai, es war noch früher Morgen, normalerweise viel zu früh für einen Sonntag und für mich, bat ich meine Eltern, mich in die Wohnung von Edeltraud Finnisch zu begleiten, um nach ihr zu sehen. Ich log, sagte, ich hätte bereits mehrfach geklingelt, warum auch immer, sie würde nicht öffnen, und ich könnte den Kater schreien hören. Das stimmte. Meine Eltern waren etwas irritiert, aber zu unausgeschlafen, um Fragen zu stellen. Was hätte ich auch sagen sollen? Dass ich ahnte, spürte, nein, wusste, dass sie für sich selbst geklopft hatte?

Mit Gerald, der an unserem ersten Abend nicht einfach umfiel und starb und der, so hoffe ich doch, immer noch lebt, – wir haben schon lange keinen Kontakt mehr – war ich immerhin zwei anständig schöne Jahre zusammen. Als ich am Tag der Beerdigung von Edeltraud Finnisch dieses Klopfen gegen den Sargdeckel hörte – wohl als Einzige, weil niemand erstaunt reagierte und eh niemand entsetzter hätte reagieren können als ich -, war ich überzeugt davon, dass sie es sich anders überlegt hatte und Gerald oder mich selbst doch noch holen wollte. So war es eben nicht. Bis jetzt.

Das letzte Klopfen der Edeltraud Finnisch galt der älteren dicken Schwester Johannssen, die vor der Trauerfeier zu meiner Mutter sagte: „Man soll ja nichts Schlechtes reden, aber merkwürdig war die Finnisch schon.“

Wie recht sie damit hatte.

*

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19
Mär
17

Karin Reddemann: Tante Traudels Zähne

Gruselgeschichte – Grusel – Spannung – Gänsehaut

Tante Traudels Zähne

© Karin Reddemann

Hätte Getrud Overkott an diesem für sie selbst prinzipiell ereignislosen Dezemberabend vor dreiunddreißig Jahren nicht aus einer undefinierbaren Laune heraus ihren Haarknoten gelöst, wäre Mechthild nach einem letzten Schluck Milch ins Bett gegangen. Sie wäre an der Seite der einarmigen blauen Stoffkatze, die sie nach ihrer zweitliebsten Cousine Roswitha genannt hatte, einfach so eingeschlafen, freilich nicht, ohne sich vorweg mit einem vorsichtigen Blick hinter die Übergardine zu vergewissern, dass da niemand stand, der darauf wartete, dass das Licht ausging.

Warum Mechthilds Mutter die weinroten bodenlangen Vorhänge, die sich schon seit Urzeiten im Familienbesitz befanden, ausgerechnet im Kinderzimmer aufgehängt hatte, war eine der Fragen, die in Mechthilds Leben unbeantwortet blieben. Vermutlich gab es keinen Grund dafür, vermutlich hatte ihre Mutter gar nicht in Erwägung gezogen, dass der scheußliche schwere Samt für ihre kleine Tochter die Nacht war, eine einzige böse rote ultimative Nacht ohne Mond und ohne Kinderreime.

Irgendwie hatte die Mutter es geschafft, auf ihre unbekümmerte Art Ängste in ihr zu wecken, denen Mechthild viele Jahre später, als sie erwachsen war und in hellen, von Licht durchfluteten Räumen lebte, schlichtweg verbot, in ihr zu atmen. Die Furcht davor, sich doch irgendwann eingestehen zu müssen, dass sie nicht ihr Leben lang die Luft anhalten konnte, um durchzuhalten, holte sie ein, als es ihr grad besonders gut gefiel, so, wie es war.

Sie empfand sich als anständig glücklich, bevor Jonas ihr die Frage stellte, die ihrer Mutter niemals über die Lippen gekommen wäre. „Wovon träumst du wirklich?“

Weil sie einfach nicht ernsthaft wissen wollte, wie düster es in kleinen Köpfen, die größer und anstrengender werden, bei aller Hoffnung auf Leichtigkeit aussehen kann. Vielleicht war es auch gar nicht wirklich gewollt, das nie Gefragte und Unbeantwortete, vielleicht sollte es nicht stattfinden im feinen vorsichtigen Leben von Mechthilds Mutter, die gern lachte und dreimal kräftig ausspuckte, wenn jemand mit dem Teufel um die Wette fluchte. Und die erst einsilbig, dann böse wurde, wenn ihr Bruder von seiner Hand erzählte.

Mechthilds Onkel Hannes, der um drei Jahre ältere Bruder ihrer Mutter, hatte nie besonders viel Aufhebens darum gemacht, dass ihm die linke Hand fehlte. Die meisten Leute guckten eh nur hin und schnell wieder weg, zumal er dieses phantastische Ding als Ersatz trug, da war kein peinliches Nichts am Gelenk. „Sauber abgehackt“, sagte er, wenn jemand sich dafür tapfer interessierte. „Egal, der Kunstscheiß macht seine Sache ordentlich. Noch was?“

Noch was beschäftigte seine kleine Nichte sehr wohl. Er mochte ihre dunklen alten Augen, die nicht jung sein wollten, er mochte die Falte, die sich zwischen ihre Brauen drängte, wenn sie ihn drängend ansah und ihre Lippen sich zusammenkniffen, weil er jetzt reden sollte. „Wer hat das gemacht, Onkel Hannes?“

Sie blickte ihn an, wartete, sie blickte ihre Mutter an, die immer noch lächelte und Kuchen verteilte und Likör einschenkte und einfach nur „Hannes!“ sagte. Freundlich klang das. Aber da war auch was im Ton der Mutter, eben wie sie den Namen des Onkels aussprach, der entschied, nicht weiter von der lästigen abgehackten Hand zu sprechen. Manchmal gelang das, manchmal redeten sie dann einfach über ganz andere Dinge, eben über irgendwas, das Mechthild grundsätzlich nicht hören mochte.

Sie langweilte sich, starrte zum Fenster, das eine schwarze Scheibe war, und stellte sich vor, dort wären Farben. Das beruhigte. Sie las viel, das lenkte sie ab von all dem Rot und Grün und Gelb, das immer schmutziger wurde, bis es hässlich war und ihr Angst machte.

Onkel Hannes ließ sich nicht immer von seiner Schwester unterbrechen. Wenn sein Gesicht sich leicht gerötet hatte und er sein Glas in der Hand hielt, nicht gewillt, es abzusetzen, nur gewillt, es hinzuhalten, um mehr zu bekommen, was in Ordnung war, weil sie alle dort saßen und trinken wollten, sprach er einfach weiter.

„Ist beim Holzhacken in Kanada passiert. Lausig kalt da, Hunger bis unter die Arme. So ein Bär von Kerl haut einfach daneben, erwischt meine Hand, hab‘ ich gebrüllt. Halleluja.“

Mechthild glaubte das nicht. Aber sie war wohlerzogen, schwieg, nickte erwachsen, vergrub sich in ihrem Buch und wollte am Abend von ihrer Mutter nach dem Gutenachtsagen wissen: „Wann war Onkel Hannes denn in Kanada?“

„In seinen Träumen, Schäfchen, die sind besser als das, was du nicht wissen musst.“

Als Mechthild ihren Onkel Hannes beim Weltkugelpuzzle, vor dem sie beide neben der Schlafhöhle im Kinderzimmer hockten und Nordamerika suchten, nach Kanada und seinen Träumen und seiner abgehackten Hand und dem, was sie nicht wissen musste, einfach so nebenher fragte, was aber tatsächlich nicht nur so nebenher schlimmes Herzklopfen bei ihr verursachte, sagte der: „War wohl vielleicht alles ganz anders, Mecki, aber du bist noch zu klein, und du solltest da auch gar nicht drüber nachdenken. Manchmal ist es besser, ganz fest die Augen zu schließen und sich was richtig Schönes vorzustellen.“

„Und wenn ich das nicht kann? Wenn ich immer an den schwarzen Mann denke, der da steht?“

„Wo soll der stehen?“

Mechthild holte tief Luft, beugte sich nach vorn, um ihrem Onkel beruhigend näher zu sein, während sie auf den Vorhang zeigte: „Na, dort vielleicht.“

Er schüttelte den Kopf und strich ihr übers Haar.

„Nein, dort nicht. Mit Sicherheit nicht. Aber ich sag dir was, ich sag dir, dass du immer gut aufpassen musst, weil sie alle lügen, wenn sie behaupten, keinen verdammten Hosenschiss vor dem schwarzen Mann zu haben. Irgendwo steckt er. Er sieht dich und merkt sich, wer du bist. Aber er kriegt dich nicht, solange du über ihn lachst.“

Mechthild verstand nicht, sie verspürte nur diese Sehnsucht nach der heißen gezuckerten Schokolade ihrer Mutter, die sie trinken würde mit der vertrauten warmen Stimme direkt neben sich. Ein Flüstern nur, freilich stark genug, um einen Bären in die Flucht zu jagen. „Pscht, mein Schäfchen, nichts passiert, Mama ist bei dir.“

Aber ihre Mutter stand nur dort im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, und sie war blass und wütend, als sie seinen Namen rief: „Hannes!“ Und gleich darauf deutlich ruhiger, mit Blick auf Mechthild, die dort neben ihrem Onkel auf dem Boden wie ein verschrecktes Kätzchen kauerte, das nicht weiß, wo es sich verstecken kann. „Hannes, bitte, nein. Ich fass das einfach nicht. Nicht meine Tochter, hörst du?“

Der blickte überrascht kurz auf und winkte ab. Ärgerlich.

„Ja ja, lassen wir das. Gut ist das nicht.“

„Was ist denn besser? Willst du ihr jetzt auch noch von Cornelia erzählen?“

Er lachte. Heiser. Nicht wirklich belustigt. „Jetzt bewegst du dich aber auf Glatteis, Schwesterchen. Hatte ich tatsächlich nicht vor. Jetzt möchte unsere kleine wachsame Mecki natürlich gern wissen, wer Cornelia war. Blöder Fehler. Und nun?“

Mechthild dachte, weine bloß nicht, nützt nichts, merkwürdig ist das alles, merkwürdig sind sie alle, und wer ist denn Cornelia, noch nie gehört, nicht weinen, vielleicht wäre es gescheit, weiter zu puzzlen, vielleicht würde Mama Kakao kochen und Onkel Hannes eine Zigarette rauchen, die in seiner falschen Hand stecken würde, aber das war ja in Ordnung, die sah aus wie echt. Nicht weinen.

„Cornelia war meine Puppe. Dein Onkel hat sie im Garten vergraben, als ich sechs war. So wie du jetzt, mein Schäflein. Ich hab sie wochenlang gesucht. Das war böse von Onkel Hannes. Als ich sie wieder hatte, war sie völlig dreckig und nicht mehr schön. Aber ich war glücklich. Und dein Onkel hat sich entschuldigt. Stimmt’s, Hannes? Hat dir leid getan. Warst ja selbst noch klein. Wie alt? Acht. Ich war sechs. Stimmt doch, Hannes?“

Mechthilds Mutter nickte ihrem Bruder zu. Der sah seine Schwester nur müde an, nickte nicht zurück. Schwieg.

„Hannes?“

„Ja.“ Er starrte auf die Puzzleteile, die wild ausgebreitet vor seinen Knie lagen, nahm eins, zögerte, betrachtete es von allen Seiten, kicherte, legte es zurück.

„Ich konnte dieses verdammte Spiel noch nie. Zu dämlich. Ich. Ich meine, doch. Doch. Es hat mir leid getan, dass Cornelia weg war. Es hat mir leid getan. Was willst du hören, verdammt?“

Er sprang auf, rieb sich den schmerzenden Rücken – immerhin hatte er die ganze Zeit in Mechthilds Augenhöhe auf dem Teppich gehockt und seine Nichte war eben klein, noch sehr klein -, warf seiner Schwester einen zornigen Blick zu und tippte auf seine Armbanduhr. „Weißt du, wie spät es ist? Wo bleibt der Mistkerl von deinem Mann? Wir waren verabredet. Scheiß was drauf, entschuldige, Süße, so was sagt man nicht. Mund ausspülen, ich weiß. Ich trink jetzt erstmal was. Wir spielen morgen weiter, Mecki.“

„Und der schwarze Mann?“ Mechthild fragte ganz leise, sie wollte nicht stören, nur wissen.

Ihre Mutter und ihr Onkel zuckten zusammen. Hatten beide vergessen, dass Kinder nicht so einfach ein lästiges Thema wechseln, wenn bessere Themen wie ein kaltes Bier und Skatkarten sich als prima Alternativen anbieten.

„Den gibt’s nicht, Schäflein. Und wenn er doch kommt, was er nicht macht, dann sorg ich dafür, dass er verschwindet und sich nie, nie wieder hier blicken lässt. Aber er kommt nicht, großes Ehrenwort.“

Mechthilds Mutter legte sich verschwörerisch zwei Finger auf die Lippen und lächelte. Mechthild lächelte nicht. Sie hätte mit dieser Antwort zufrieden sein sollen, das wusste sie, aber irgendwas sehr Erwachsenes in ihr sagte ihr, dass ihre Mutter einen völligen Blödsinn erzählt hatte. Sie runzelte ihre kleine Stirn. „Kommt er nicht oder gibt’s ihn nicht, Mama? Onkel Hannes …“

„Dein Onkel wollte dich nur erschrecken. Das ist nicht lustig, Hannes.“

„Nein. Nicht lustig. Und du holst jetzt endlich die grauenvollen Vorhänge da vor Mechthilds Fenster runter, klar? Ich warne dich. Du machst es schlimmer. Denk an deine Puppe. Wie hieß sie noch? Cornelia.“

Die Vorhänge blieben.

Fünfzehn Jahre später erfuhr Mechthild, dass ihre Mutter keine Plastikpuppe mit dem prinzipiell unsympathischen Namen Cornelia besessen hatte, die von einem ungezogenen achtjährigen Lauser in der Gartenerde verbuddelt worden war, um sie zum Heulen zu bringen. Cornelia Spokowski hieß eine junge Frau aus der Nachbarschaft, die kurz nach ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag spurlos verschwunden und niemals wieder aufgetaucht war. Medizinstudentin im siebten Semester, Barbie- und Menstruationsfreundin ihrer Mutter und wohl auch eine, vielleicht die eine wirkliche Freundin ihres Onkels.

Es war das Jahr, der Monat und exakt auch der Tag, an dem Hannes Overfeld seine Hand verloren hatte.

Kein Holzfäller. Kein unkonzentrierter Schlag auf Muskeln und Knorpel und Fleisch. Nur Schmerz. Verblüffung. Erkenntnis. Und Angst. Viel Angst.

Als Hannes Overfeld seiner Nichte Mechthild von diesem Abend erzählte, der alles verändert hatte, war er betrunken.

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19
Mär
17

Karin Reddemann: Toter Besuch

Gruselgeschichte – Grusel – Spannung – Gänsehaut

Toter Besuch

© Karin Reddemann

Ich wohne, seit ich denken kann, in der Nähe eines alten Friedhofs. Die Mehrzahl der Gräber ist verschwunden, sie sind Gras gewichen, das über den Toten wächst, deren Namen niemand kennt. Begraben wird dort nicht mehr. Einige wenige Steine stehen noch, ich lese, was dort einstmals liebevoll verfasst worden ist. Manchmal sehe ich frische Blumen oder eine Kerze. Dann weiß ich, dass dort Menschen schlafen, die immer noch wichtig sind. Aber einige schlafen nicht. Mag sein, nicht mehr.

Mit der Vorstellung kann ich leben, dass sie sich nicht mit der Endlichkeit abfinden können. Müssen sie auch nicht. Ich glaube fest daran, dass wir alle wiederkommen, vielleicht in einer anderen Zeit, in anderer Gestalt, glücklicher oder schrecklicher, geschätzt, geliebt, gehasst, gequält, gefoltert, begehrt. Das liegt in unseren Händen. Oder auch nicht. Vielleicht war ich mal eine aufmüpfige Rothaarige, die verbrannt worden ist? Oder Edeldame. Oder Kakerlake. Kann alles sein, da spinne ich schon mal.

Zugleich bin ich vernünftig. Trotzdem zweifelnd. Ich zitiere Stephen King, der versteht das: „Vampire, Wiedergänger, das Ding, das im Kleiderschrank haust, jede Art von Horror. Nichts davon ist real. Das Ding, das unter dem Bett darauf lauert, meinen Fuß zu packen, ist nicht real. Ich weiß das, aber ich weiß auch, dass es mich nie erwischen wird, solange ich meinen Fuß gut unter der Decke halte.“

Daran orientiere ich mich. Immer schön zugedeckt, ich will nicht unnötig erschreckt oder gar angebissen werden. Ich will auch nicht, dass ruhelose Geister bei mir in der Wohnung hocken, ungefragt im Buchregal stöbern und mir beim Baden zugucken. Ich hätte freilich nicht vermutet, dass mir persönlich solch ein von Schlafstörungen geplagter Untoter begegnet, der mich nicht mehr unbeschwert lachen und denken lässt. Ich lache prinzipiell nicht so oft. Jetzt gar nicht mehr. Jetzt habe ich nur noch Angst.

Es geschah an einem Sommertag, der nicht wirklich Sommer war. Der Himmel bedeckt, die Sonne gelangweilt. Sie versteckte sich hinter dunklen Wolken, ich roch den nahenden Regen, aber der Hund musste raus. Ich ging mit ihm auf meinen Friedhof, achtete wie immer darauf, dass er es sich nicht auf den wenigen verbliebenen Gräbern gemütlich machte. Er wälzte sich auf der Wiese, unter der die Vergessenen ruhen, als diese Frau mit ihrem Gehstock auftauchte. Ein böses, verbittertes Weib, das sich spontan vorgenommen hatte, mit der Krücke meinen Hund zu erschlagen.

„Was treibt sich der Köter hier herum, der hat hier nichts zu suchen.“ Und dann: „Du Dreckstück, hast du kein Schamgefühl vor den Toten?“

Das galt mir. Natürlich wollte ich vernünftig reagieren, immerhin zählte sie vielleicht zu den wenigen, die Leichen unter den Gänseblümchen haben und es noch wissen.

Dann hob sie den Stock. Fuchtelte wild damit herum, erstaunlich gekonnt für ihr Alter. Bevor ich einschreiten konnte, um meinen völlig verschreckten Hund zu retten, der grundsätzlich glaubt, dass alle Menschen gut sind und ihn mögen, wurde der Frau mit einem Beil der Kopf gespalten. Knochen splitterten, Blut spritzte, das Gehirn war einwandfrei sichtbar, so was kann man ja nicht alle Tage bestaunen. Ihren ungläubigen Gesichtsausdruck in der letzten Sekunde ihres wohl traurigen Daseins werde ich nie vergessen. Mein Entsetzen auch nicht.

Ich starrte auf den geteilten und völlig entstellten Schädel. Sah diesen bleichen Mann mit der Axt. Hörte ihn sagen: „Jetzt schuldest du mir was.“ Blickte in seine kalten Augen. Auf seine knöchernen Hände. Mein erster Kontakt mit einem lebenden Toten. Hätte gern drauf verzichtet. Ich rief meinen Hund und flüchtete mit ihm, ohne mich umzusehen, mit dieser heiseren Stimme im Kopf: „Ich werde dich besuchen.“

Seitdem warte ich. Immer brav zugedeckt.

*

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19
Mär
17

Karin Reddemann: Omas Baby

Gruselgeschichte – Grusel – Spannung – Gänsehaut

Omas Baby

© Karin Reddemann

Ich sah meine Großmutter wieder. Sie ist schon sehr lange tot, aber verändert hatte sie sich nur bedingt. Ihre ehemals graugrünen Augen waren rot, irgendwie unschön gelb umrandet, das irritierte mich. Ansonsten war sie die mir vertraute alte Hexe mit knöchernen Fingern und kalter Stimme, die in mir nie mehr als ein nutzloses, hässliches Bündel Fleisch gesehen hat. „Du bist nichts, du kannst nichts. Und starre nicht auf den Boden, sieh mich gefälligst an. Halte dich aufrecht, Gott, bist du ein Trampel!“

In meinem Traum, der wohl nicht wirklich ein Traum gewesen ist, starrte sie mich sekundenlang mit ihren tiefroten Augen an und sagte: „Du hast dich entwickelt, gut, das ist die reine Linie. Unsere. Wir heißen immer noch von Bittlow. Das verpflichtet. Ich hätte freilich nicht gedacht, dass auch aus dem letzten Abfall meiner Familie etwas wird. Und wenn auch nur ein dummer kleiner Schreiberling dabei herumgekommen ist. Denke an deinen Großvater. Der malte nackte Frauen. Und hat gesoffen. Eine Schande. Wie du.“

Ich war Anfang Dreißig, immer noch orientierungslos, frisch getrennt von Hajo und neu verliebt in Chris. Beruflich lief es nicht schlecht, aber das Büro in der Havenbeckerstraße war nichts Besonderes, mein Job unterforderte mich. Das ist jetzt nicht anmaßend gemeint, mir war und ist bewusst, wo ich stand und stehe. Und wann die Zeit kommt. Kommen würde.

Als ich mich damals bei der Redaktionsleitung gänzlich voll mit Optimismus getankt vorgestellt hatte, hörte ich den Satz, speicherte ihn und fraß ihn in mich hinein: „Grundsätzlich sind wir gegen Akademiker. Die machen nur Ärger. Aber wir versuchen es mit Ihnen.“

Mein Chef, dem ich dann im fensterlosen Raum an der Havenbeckerstraße untergeordnet wurde, war scheinheilig nett, ziemlich dumm und auf albern rührende Art schleimig. Mich ließ er in Ruhe, solange ich brav erledigte, was ihm verdammt wichtig war und den Rest der Welt einen Scheiß interessierte. Mich auch.

Klar muckte ich auf. Ich wünschte ihm einen künstlichen Darmausgang. Und als er mich bedrängte, einen Roman über eine völlig inhaltslose Science-Fiction-Story für ihn zu schreiben, natürlich unter seinem Namen, sagte ich zu ihm: „Einfach Pech, so was nicht selbst zu können. In meinem Kopf erschaffe ich auch Skulpturen, in der Realität weiß ich, das nicht korrekt zu packen. Also, vergessen wir das mal mit Ihrem blöden Roman.“ Kapierte er nicht, er wurde nur sauer, war beleidigt und drohte mit Abmahnung. Ich nannte ich „Hausmeister ohne Hirn“. Keine Ahnung, warum genau in diesem Zusammenhang. Vermutlich aber, weil Hausmeister und Parkwächter sich für so verflucht wichtig halten.

Wie meine Großmutter. Sie wollte unbedingt zurückkehren. Sie wünschte sich ein Baby. Für ihre Seele. Die ich nicht liebte. Nie wirklich habe lieben können. Meine Oma Leonora hätte sich seit zwanzig Jahren eine Möglichkeit aussuchen können, wieder leben zu können. Aber sie hat geduldig, vermutlich auch zornig gewartet. Sie wollte eine bühnenreife Wiederkehr, schnurstracks retour in die sacra familia. Mit meiner Hilfe.

Natürlich wusste sie, dass ich schwanger war. Von Christofer, meinem aktuellen Liebhaber. Plötzlich, ungewollt, ungeplant, trotzdem schon im Vorfeld zärtlich angenommen. Zumindest von mir.

Meine Großmutter sagte zu mir in diesem Traum, der keiner war: „Dein Kind werde ich sein. Hast du verstanden? Mein Geist wird in ihm sein. Und ich werde dich beobachten. Immer. Freue dich schon mal auf mich. Ich mache dir dein Leben zur Hölle, wenn du nicht ordentlich funktionierst.“

Davor fürchtete ich mich. Zeitlebens war sie streng und hart gewesen, ich wollte sie nicht mehr, wollte schreien: „Geh weg von mir, du arrogantes Miststück, hast mich nie gemocht.“

Dann kündigte ich, der Verlag schätzte keine Aufmüpfigkeit, und mein Chef, dieser prinzipiell inkompetente Vollidiot, suchte permanent nach Fehlern. Ergo konzentriere ich mich auf das Kind, das sich angemeldet hatte, sitze jetzt hier am Fenster, mit einem Bauch, der täglich dicker wird, vermisse tatsächlich den bekloppten Hausmeister, weil er zum normalen, stupiden Allerlei gehört hat und ich ihm gern eine so richtig fett gescheuert hätte. Irgendwann in einer Vergangenheit, die mir eine ganz andere Hoffnung versprochen hatte. Das Baby strampelt schon kräftig. Ich werde es mit Liebe und Angst begrüßen. Und heimlich weinen. Weil ich noch nicht weiß, wer in ihm steckt.

Chris baute verdammten Mist. Unbeabsichtigt. Tragisch für ihn. Er ließ das Einmachglas fallen, zerstörte das Gefängnis, in dem Leonaras Geist sich befand und vermutlich vor Wut kochte.

Ich hätte es ihm rechtzeitig erzählen können, aber es wäre einfach zu absurd gewesen. Die Vorstellung, dass Leonora in meinem Baby wieder und vor allem weiterlebt, war und ist unerträglich für mich. Sie war so kalt, so abwertend, so gänzlich ohne Gefühl. Zumindest zeigte sie es nie.

Ich hatte es geschafft, mit der Hilfe von Frederika Machulski, einer Frau, die sich mit einer Magie auskennt, die ich nicht verstehe und nicht wirklich verstehen will, Leonoras dunkle Seele einsperren zu können. Sie steckte in diesem schäbigen Glas, das gut zugeschraubt war. Es stand auf meinem Nachttisch, ich frage mich immer noch, warum ich es nicht im Garten eingegraben habe. Vielleicht war der Grund, dass ich weiterhin an die heilige Familie glaubte und Respekt zeigen wollte. Auch vor ihr.

Ich bin keine Mörderin. Grundsätzlich nicht. Aber nachdem Chris das Einmachglas auf den Boden hatte fallen lassen, musste ich handeln. Leonoras Geist war wieder frei. Frei für mein Baby.

Chris schlief, als ich ihm ein letztes Mal die Wangen küsste. Dann schnitt ich ihm die Kehle durch. Es ging ganz schnell. Ich betete zu Gott, dass er, mein treuherzig Geliebter, es sein wird, der zurückkehrt. Im Körper meines Kindes.

Immer noch sitze ich am Fenster. Mit einem dicken Bauch, der mir etwas erzählen will. Und ich hoffe, dass Leonora von Bittlow sich etwas anderes suchen muss, weil Chris das Recht in Anspruch nimmt, wieder bei mir zu sein.

In der Hand halte ich immer noch das blutverschmierte Messer. Höre seine Stimme: „Warum?“ Höre ihre Stimme: „Du entkommst mir nicht.“

Das Messer werde ich entsorgen. Vielleicht auch nicht.

*

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Schweigeminuten
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19
Mär
17

Karin Reddemann: Mein Teddy

Gruselgeschichte – Grusel – Spannung – Gänsehaut

Mein Teddy

© Karin Reddemann

Er ist plüschig, alt und sehr zerliebt. Mein Teddy Toldi. Vermutlich ein böser Mörder. Aber das glaubt mir keiner. Soll eh niemand wissen. Ich muss mir jetzt nur überlegen, wer rein theoretisch ansonsten in Frage kommen könnte für Thorsten Hoffmanns Tod. Das bereitet mir Kopfschmerzen. Die Polizei, der unnötige Notarzt (tot ist eben tot) werden mir Fragen stellen. Ich kann schlecht meinen Teddy verhaften lassen. Toldi ist mein bester Freund seit Kindertagen, den verpfeife ich nicht.

Momentan hocke ich auf der Bettkante, trinke hilflos Rotwein, rauche eine, zwei, drei zu viel und starre auf eine durchtrennte Kehle. Alles ist voller Blut, Kissen, Laken, Decke. Es ist verdammt spät, ich sollte längst schlafen. Aber da liegt eine Leiche in meinem Bett. Das ist zurzeit unbenutzbar für mich, da unschön rot durchtränkt. Außerdem will ich diesen kalten Mann nicht an meiner Seite.

Was mache ich jetzt? Was mache ich mit diesem Hoffmann?

Mein kleiner Teddy schlummert im Halbschlaf neben dem nutzlos gewordenen Körper von Hoffmann. Süß, Toldis dunkle Knopfaugen, die weichen Pfötchen, das Mäulchen leicht verschmiert. Tut so, als hätte er nichts angerichtet. Ich weiß aber, dass er derb und frech zugebissen hat. Da kann er mir bei aller Treuherzigkeit nichts vorspielen, da bin ich streng und schimpfe. „So was, mein Freund, macht man nicht!“

Eifersüchtig war er immer schon. Ich fand das stets rührend goldig. Es war putzig, wie er Männer vergraulte, die sowieso nichts für mich gewesen wären. Ich sprach mit Toldi unter vier Augen. Er schüttelte sich, und ich kickte die Kerle charmant, aber konsequent aus meinem Leben.

Toldi liebt mich. Ich ihn auch. Fremden gegenüber kann er merkwürdig werden. Aber bei Hoffmann ist er eindeutig zu weit gegangen.

Hoffman habe ich nach einer ziemlich hohlen lyrischen Lesung in einem Szenelokal in der Innenstadt kennengelernt, nicht weit von meinem Elternhaus entfernt, in dem ich immer noch wohne. Sozusagen seit meiner Geburt, ich schätze meine Wurzeln.

Wir plauderten über blöde Gedichte, Sinn und Unsinn, lachten, tranken, flirteten. Irgendwann ging er mir auf die Nerven. Aber ich war einsam – ein Grund, warum ich mir stümperhafte Poesie angehört hatte -, also lud ich ihn ein. „Gehen wir noch zu mir?“

Nuttig kam ich mir vor. So ein bisschen. Aber auch selbstbewusst. Eine Frau, die ihren Weg geht. Für ihn war es nicht der richtige. Egal. Nun war er da. Hatte blankgeputzte Zähne, roch nach Moschus und trug diesen schönen Kaschmirpullover.

Hoffmann war jetzt nicht so unbedingt mein Typ. Zu gelackt, zu sehr von seinem Kopf, seinem Körper überzeugt. Selbstüberschätzung macht mich übellaunig, die kann ich nicht leiden.

In meinem Wohnzimmer zeigte er mir unaufgefordert Fotos, die er aus seiner prall gefüllten Brieftasche zauberte. Sein Haus. Sein Boot. Sein Pferd. Ich hätte kotzen können. Aber ich heuchelte Interesse. Danach gierte er. Ich sagte: „Wie wunderschön, diese Architektur, und dieses blitzblanke Schiff, also wirklich, und, große Güte, was für ein Gaul.“

Bei „Gaul“ guckte er etwas beleidigt. Ich entschuldigte mich für meinen Patzer und küsste ihn weg. So macht man das. Auch wenn man es gar nicht unbedingt will. Insgeheim wünschte ich mir, dass er verschwindet. Es war nicht mein bester Tag.

Armer Hoffmann. Er blieb stur, kippte italienischen Schnaps und blieb. Sein Fehler. Als wir uns gemeinsam in meinem Bett wühlten und Körperkontakt hatten, der mir nur bedingt gefiel, entdeckte Hoffmann Toldi. Er witzelte: „So ein großes Mädchen. Immer noch ein Schmusebärchen?“ Und dann: „Übrigens, hast du Orgasmusschwierigkeiten?“

Toldi sah mich streng, aber mitfühlend an. Ein echter Freund. Er biss Hoffmann beide Hoden ab und schnitt ihm die Kehle durch.

Ich kann es nicht ändern. Hocke hier mit einem Toten und habe diesen Blutgeschmack im Mund. Muss wohl mit Pfefferminzwasser gurgeln und das Messer entsorgen. Sonst kommt noch jemand auf dumme Gedanken.

***

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03
Feb
10

Karin Reddemann: Gut geträumt Bruder

Gruselgeschichte – Grusel – Spannung – Gänsehaut

Gut geträumt, Bruder

© Karin Reddemann

Der dicke weiße Mann trug einen Zylinder und hatte ein winziges Loch unter der Nase. Er lag in Axels Arbeitszimmer auf dem Teppich und rollte sich umständlich wieder und wieder von einer Seite auf die andere. Der Hut saß erstaunlich fest, er rutschte zur Seite, in den Nacken, vor die Augen, aber er blieb, wo er war. Der Dicke grunzte unfreundlich, offensichtlich ärgerte es ihn, angeglotzt zu werden.

Gregor, der wie ein Pappschild zwischen Bücherregal und Türrahmen an der Wand klebte und vernünftig entschieden hatte, sich vorerst nicht zu rühren, möglichst auch nicht zu atmen, starrte auf den Zylinder und fragte sich unsinnigerweise, warum der Idiot auf Axels Boden sich das
verdammte Ding nicht einfach vom Kopf fegte. Stört doch, dachte er, kann man doch gar nichts mit anfangen hier, sieht doch echt Scheiße aus, weg damit, Junge, aber so ohne Arme, geht ja nicht, so ganz ohne irgendwas, sieht alles irgendwie Scheiße aus.

„Siehst du, was hab ich gesagt, was hab ich dir gesagt, das da, das hab ich gemeint, ist das normal jetzt oder was? Und du glaubst mir nicht, bin ja bekifft, oh Mann, klar doch. Sackgesicht, du, sowas von bekifft.“ Axel lachte eine Spur zu laut, ließ für einen kurzen Moment den weißen Mann aus den Augen und sah seinen Bruder so triumphierend an, als hätte er soeben den endgültigen Beweis für die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen geliefert. „Der da war in meinem Traum. Genau der da.“

„Und wie zum Teufel kommt der in deine Wohnung?“ Gregor deutete angewidert mit dem Finger auf den weißen armlosen Dicken mit dem Zylinder und schüttelte sich. „Abartig. Wieso träumst du so eine Kacke? Was für eine irre Matschbirne hast du eigentlich?“

Der Mann auf Axels Boden grunzte wieder. Gregor fingerte sich eine windschiefe Zigarette aus der zerknüllten Schachtel, die er mit der rechten Hand in seiner Hosentasche achtlos durchgeknetet hatte, bog sie sich scheinbar höchst konzentriert zurecht, betrachtete sie eingehend und warf sie in die Ecke. Nahm sich eine neue, die er sich unbesehen zwischen die Lippen steckte, zündete sie aber nicht an. Er stand nur da, starrte, spuckte die Zigarette aus und stöhnte. „Womit grunzt das Viech denn? Aus dem komischen Loch kommt das nicht. Grunzt das aus dem Arsch?“
„Hat keinen. Guck doch. Maden haben keine Ärsche. Glaub ich.“

Der weiße Mann rollte sich grunzend auf den Bauch, als wollte er anklagend demonstrieren, wie unfertig er tatsächlich war. Rollte sich zurück, der Zylinder bedeckte sein halbes Gesicht. Kein Hintern. Keine Arme. Auch keine Beine, nur diese spitz zulaufende halbtransparente Flosse, aus der wie planlos hinein gepropft, ein männliches Glied ragte, das unnütze kleine Fontänen spuckte. Da war eben nichts wirklich Richtiges, da war nur dieser monströse weiße linsenförmige häßliche Körper mit Kopf, ein unbehaartes fettes Etwas mit Zylinder. Es riss sein Loch weit auf und pfiff.

„Pffft!“

Gregor schnappte hörbar nach Luft. „Hast du gehört? Warum pfeift der? Hast du Spinner geträumt, dass der pfeifen soll? Wieso das denn nun?“
Während die große pfeifende Made sich weiterhin auf dem Teppich wälzte und ejakulierte, ohne sich dabei gezielt in eine erkennbare Richtung zu rollen, schien ihr wütender Blick immer wieder Gregor zu suchen. Axel, der zwei Meter entfernt von seinem Bruder am Schreibtisch lehnte und sich mittlerweile so weit gefangen hatte, dass er sich wieder an den Teqila erinnern konnte, kicherte albern. „Der mag dich wohl nicht. Sieht irgendwie sauer aus.“

Die Augen des dicken weißen Mannes waren kreisrund. Tiefschwarze Halbkugeln ohne Wimpernkränze, die aussahen, als hätte jemand Murmeln mit dem Daumen in ein wächsernes Puppengesicht gedrückt.
„Guck sie dir an, Gregor. Wie die Rosinen bei einem Stutenkerl. Findest du nicht?“ Axels wirkte sichtlich aufgekratzt, griff nach der Flasche Tequila auf dem Schreibtisch, drehte den Schraubverschluss ab, hielt sie ihm aufmunternd entgegen. „Neenee, also echt, sowas, hättest du wohl nicht gedacht, nee, hättest du nicht, weiß ich. Ich sag jetzt erst mal Prost. Auf Hans. Brauchst du ein Glas?“
Echt ypisch mein kleiner blöder Bruder, dachte Gregor verärgert, hat an jedem Müll seine kleine blöde beschissene Freude. Er schüttelte wortlos den Kopf, rührte sich aber nicht von der Stelle und wartete, bis Axel ihm mit weit ausgestrecktem Arm die Flasche in die Hand drücken konnte, vorsichtig bemüht, dem Kerl auf dem Teppich nicht zu nahe zu kommen. Ist ja interessant, dachte Gregor, große Schnauze, aber die Hosen voll. Wieso Hans? Egal.
Er nahm einen tiefen Schluck, sah dabei auf seine Armbanduhr, stöhnte auf. „Herrgott, Axel, weißt du, wie spät es ist? Es ist halb fünf. Morgens. Morgens! Kapiert? Halb fünf. Und ich saufe hier Schnaps mit meinem völlig durchgeknallten Bruder, der mich aus dem Bett klingelt und mir lustig erzählt, er hätte einen Alptraum gehabt von einer riesigen grunzenden Made mit einem Zylinder auf dem Kopf, und die läge jetzt in seiner Wohnung rum, und ich denk, klar, Scheiße auch, der hat mal wieder ein paar Drops zuviel reingeworfen, und weil ich, verflucht noch mal, auf den kleinen Wichser aufpassen muss, damit der Junge keinen Blödsinn macht, jaja, versprochen, Mama, großes Indianerwort, Papa, schmeiss ich mich in mein Auto und fahr brav hin, um ihn in seinen süßen Arsch zu treten. Aber dazu komm ich gar nicht, weil da tatsächlich dieser fette weiße Wurm ist, und der grunzt nicht nur, der pfeift auch und glotzt mich an mit seinen, wie war das?, ja, Rosinenaugen, als wenn er mich fressen will, und ich? Ich saufe Tequila, ich bin doch nicht ganz echt.“

Er nahm noch einen Schluck, trank eine Spur zu hastig und musste husten. Axel nickte betroffen, so herrlich betroffen, wie er schon als Dreijähriger hatte nicken können, bewegte sich einen Schritt auf Gregor zu, schön dicht an der Wand entlang, und klopfte ihm auf die Schulter. „Ist ja gut, ich mach das nicht mit Absicht, glaubst du denn, mir gefällt das?“
Gregor sah ihn skeptisch an. Axel grinste.
„Ob dir das gefällt? Aber ja. Offensichtlich ja.“
„Schwachsinn. Der da macht mich auch nervös. Meinst du, wenn ich jetzt einpennen würde, wäre der wieder weg?“
Gregor bekreuzigte sich. „Lieber Gott, lass ihn nicht so völlig doof sterben. Jetzt einpennen. Was hast du vor? Willst du ihn wegschlafen? Also du träumst mal eben kurz, dass der da gar nicht da ist, von dem du vorher geträumt hast, und dann haben wir keine Made mehr in deiner Bude. Ja? Dann mach mal voran, du Großmeister aller Sackgesichter, los. Träum.“

Er steckte sich eine Zigarette an mit der festen Absicht, diese eine tatsächlich zu rauchen, mehr noch, er nahm sich vor, noch mehr Tequila zu trinken, Axel war stets ordentlich eingedeckt, sollten die in der Kanzlei heute ohne ihn fertig werden, er hatte genug mit seinem beknackten Bruder und dessen häßlichen Wurm zu tun. Er inhalierte, stieß den Rauch durch die Nase aus, sah dem hübschen blauen Kringel beinahe verliebt nach, verlor das Interesse an seiner guten Laune und blickte irritiert zu Boden. Auf seinen Schuhspitzen waren feine Tröpfchen. „Ist das von dem da? Spritzt der so weit? Ist doch eklig. Was hast du dir denn überhaupt dabei gedacht? Bei diesem komischen Schwanz da in dem Ding? Warst du im Delirium?. Sowas spinnt sich ein vernünftig schlafender Mensch doch nicht zusammen, du bist echt krank, Axel, ich mach mir wirklich Sorgen.“

Axel verzog gekränkt das Gesicht. „Komm mir bloß nicht auf die Tour. Ich hab den da ja nicht gemacht oder so, das war ein völlig normaler abartiger Traum, andere haben da noch viel beschisseneres Zeug im Hinterstübchen, kann ich denn ahnen, dass ich aufwache und der allen Ernstes bei mir auf dem Teppich herum kugelt? Kann ich wohl nicht. Und was machen wir nun?“

Jetzt nicht aggressiv werden, dachte Gregor, was wir machen, klar doch, was ich mache, meint der wohl. Wie immer. Er zuckte mit den Achseln, vorläufig fiel ihm nichts Klügeres ein, und bot Axel schweigend eine Zigarette an. Der schüttelte den Kopf . „Für mich nicht. Gib doch Hans eine. Mal seh’n, was der mit seinem Loch so alles machen kann. Komm schon, gib ihm eine. Traust dich nicht ran, was?“
„Hör auf mit dem Dreck. Wieso Hans?“

„Pffft!“

Gregor zuckte zusammen.. „Dieses Pfeifen. Grauenvoll. Wieso nennst du das da Hans? Wann hast du ihm denn einen Namen gegeben? Du bist doch total…he!“ Er griff nach dem dünnen Schwanz, der vor seiner Brust baumelte, verfehlte ihn, schüttelte sich, sah den kleinen Affen, zwinkerte kurz, sah ihn nicht mehr, grinste schief und dachte, okay, jetzt ist es auch mit dir soweit In dem Moment hüpfte ihm etwas auf die Schulter und krallte sich dort fest.

„Nichts da, weg mit dir. Wirst du wohl loslassen.“ Axel fuchtelte wild mit den Armen, natürlich lachte der Idiot, ist auch wirklich alles zum Brüllen hier, dachte Gregor. Er schlug nach dem Tier, das sich an seinen Hals klammerte, schlug erneut, diesmal fester, registrierte einen hohen empörten Schrei, dann war er befreit. Der Affe trug eine Strickjacke und winzige Turnschuhe, von denen er einen verlor, als er mit einem weiten Satz durch das Zimmer flog und auf der Gardinenstange landete. Dort blieb er laut schimpfend hocken.

Georg rieb seinen Hals, der Affe hatte ihn gekratzt, da war unverkennbar echtes Blut an seinen Fingerspitzen, da war echter brennender Schmerz, und irgendwie fühlte er sich erleichtert. Zumindest halluzinierst du nicht, dachte er, alter Junge, du bist noch halbwegs frisch da oben.
Er bemühte sich, seine Stimme so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. „Wie originell, Axel. Dann leg mal los, ich höre. Was macht der Affe hier? Wieso hat der Klamotten an?“
Axel breitete die Arme aus, zog eine kindliche Schnute, – „Was fragst du denn mich?“ – , griff nach der Flasche, die Gregor auf dem Bücherregal abgestellt hatte, führte sie zum Mund, setzte an, stockte. Stutzte. Schrie. Es klang begeistert. „Natürlich. Der war auch dabei.“ Schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn, lachte kurz auf, trank, grinste zufrieden, nahm noch einen Schluck. Rülpste. Lachte. Gregor sah ihm fassungslos zu. „Wobei? Pack die gottverdammte Pulle weg, ich frag dich was. Wobei war der Affe?“
„In meinem Traum. Ich hab von dem geträumt, genauso sah der aus. Witzig, was?“
„Nein. Nicht witzig. Was geschieht mit ihm?“
„Er wird gefressen. Hans frißt ihn auf. Glaub ich. Weiß ich nicht mehr so genau. Ist das so wichtig?“ Axel fingerte sich jetzt doch eine Zigarette aus Gregors Schachtel, musterte sie vergnügt und boxte seinen Bruder in die Seite. „Wieso lädierst du die armen Dinger so? Entspann dich.“

„Was hast du denn noch Schönes geträumt? Ich frag nur mal so.“ Gregor atmete tief durch, steckte betont beiläufig die Hände in die Hosentaschen, ballte sie zu Fäusten. Der Irre soll bloß aufpassen, dachte er, bloß aufpassen. Axel legte seinen Kopf in den Nacken, schien tatsächlich zu überlegen. Dann: „Ich denke, nun, nein. Denke ich. Sonst nichts. Nein. Oder doch. So’n paar Russenärsche mit Kalaschnikows haben deine Frau gefickt, Tatsache, Gitta war auch da, ich konnte ihre Muschi riechen.Und dann ist sie wie ein Knallbonbon in zwei Stücke geflogen, überall Gedärmgematsche. Glotz nicht so blöd, was kann ich denn dafür? Billsbeck hab ich auch abgefackelt. Ich denke, dass das unser beschissenes Kaff Billsbeck war. Scheiß was drauf, Scheiß was auf meinen Traum. Mach lieber das Ekelpaket von meinem Teppich weg, ich will den da nicht mehr.“

Axel stieß sich mit einem Bein von der Wand ab, holte Schwung und trat dem dicken weißen Mann dorthin, wo der Bauch sein musste. Der Mann pfiff durch sein Loch und blinzelte böse mit den Rosinenaugen.

„Pffft!“

Axel bückte sich und rückte den Zylinder grade. Dann spuckte er ihm ins Gesicht. „Böser Junge. Sollst du Laut geben? Nein, sollst du nicht.“

„Bist du jetzt komplett wahnsinnig geworden? Geh weg von dem, sofort gehst du da weg.“ Gregor sprang einen Schritt auf Axel zu, zog ihn am Ärmel seines Pullovers hoch, zerrte ihn zur Seite, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn durch. „Ich glaub das nicht, Axel, ich glaub das einfach nicht. Ich sollte dir die Fresse polieren, wenn du das noch mal machst, hattest du mal Eier, klar?!“

Axel sah ihn amüsiert an und versuchte, sich aus dem Griff seines Bruders zu befreien. „Okay, schon gut, alles klar, Mann. Nicht so doll, Mann.“ Gregor reagierte nicht, schüttelte weiter. Axel lief rot an. Für einen Moment schien auch er verärgert zu sein. „He Mann, hör auf damit, mir wird schon ganz schlecht davon, ich kotz dich gleich voll, ich warn dich. Mann, Himmel, reg dich doch nicht so auf, hier passiert doch nichts. Rein gar…was zum Henker?“

„Pffft!“

Das war deutlich lauter als vorher. Beide blickten gleichzeitig auf den Weißen am Boden, der es geschafft hatte, sich näher an sie heran zu rollen, er lag jetzt fast zu ihren Füßen, auf seinem Gesicht turnte der Affe. Gregor hielt Axel immer noch fest, beide japsten nach Luft. Der Affe turnte nicht wirklich, er versuchte, mit sinnlosen Verrenkungen sein Hinterteil aus dem Loch zu ziehen, das jetzt die Größe eines Tennisballs hatte. Die Rosinenaugen waren weit aufgerissen, als die ersten Knochen knackten. Der Affe schien selbst erstaunt zu sein, dass sein ganzer Körper in dieses Loch zu passen schien, er blieb stumm, auch, als ihm klar wurde, dass er nicht wirklich passte. Der Mann mit dem Zylinder schien ihn in sich hinein zu saugen wie eine fette große Frau, die durch ein kleines kaputtes Fenster im Flugzeug verschwindet, so leicht, als wäre sie vorher in einem Mixer gewesen, um mundgerecht gemacht zu werden.
Als nur noch der bereits deformierte Kopf aus dem Loch ragte, war es Axel, der als erster seine Sprache wieder fand. „Hat der den jetzt bei lebendigem Leib pürriert? Hat er das? Wie macht der sowas?“ Gregor nickte, krächzte Undefinierbares, räusperte sich, flüsterte nur. „Scheißegal. Weg hier, Axel.“

„Neeeiiin.“ Gregor zuckte zusammen. Starrte zu Boden. Die Made mit dem Zylinder blinzelte ihm mit einem ihrer Rosinenaugen zu und zog dabei ihr Loch in die Länge. „Neeeiiin.“ Dann klaffte es wie eine durch einen sauberen Schnitt herbeigeführte Wunde weit auseinander, weit genug, um einen Kinderkopf hinein zu stecken. Nicht weit genug für einen ausgewachsenen Mann, natürlich nicht, aber Gregor hatte gelernt, dass nichts so möglich wie das vermeintlich Unmögliche sein kann. Er taumelte zurück, schwankte, fand keinen Halt, stolperte über die eigenen Füße und fiel unsanft gegen Axels schweren Schreibtischstuhl, rappelte sich wieder auf, fiel wieder, schlug mit dem Hinterkopf an die Stuhlkante, hätte gern geschrien, vor Schmerz, vor Entsetzen, versuchte, einen Ton von sich zu geben, irgendeinen verdammten menschlichen Laut. Nichts kam über seine Lippen, nicht einmal das Brüllen, das in seinem Kopf explodierte, als er seinen Bruder sah. Der blickte ungläubig zurück, dann zu Boden, erkannte verblüfft, wo exakt er stand, wo sein rechtes Bein sich mittlerweile befand, hörte das Knacken, ein Grunzen, ein Geräusch, als würde jemand Brause durch einen dicken Strohhalm ziehen.
„Gregor.“
Nur der Name.
Nichts mehr.

„Gregor?“

Er öffnete die Augen, nur einen kleinen Spalt weit, stöhnte, kniff sie sofort wieder zusammen, öffnete sie vorsichtig erneut, um sie an den Schein der Taschenlampe zu gewöhnen, mit der sein Bruder ihn blendete. Sein Schädel brummte, als hätte jemand mit einer Zange versucht, sein das Gehirn heraus zu kneifen.
„Gregor? Alles in Ordnung?“ Axel hielt ihm die Lampe direkt ins Gesicht, er sah ehrlich besorgt aus. „Mann, mach doch nicht solche Sachen.“
Gregor, der längs gestreckt auf dem Rücken vor Axels Schreibtisch lag, stemmte sich mit den Ellenbogen hoch, kam in Sitzstellung, fasste an seinen Hinterkopf. Warm, nass, klebrig war es dort. „Scheiße, ich blute.“
„War klar. Bei dem Stunt. Hammerhart, wie du hingeknallt bist. Wohl zuviel Tequila, du alter Saftsack, wusste gar nicht, dass mein großer Bruder wie ein Weichei säuft. Ohnmächtig warst du Penner, korrekt ohnmächtig wie so ‘ne Heiteiteifotze im Film, ich dachte schon, du pennst dich gradewegs in die Hölle. Hast du wenigstens was Gutes geträumt?“
„Nein.“ Gregor zögerte kurz, sah Axel mißtrauisch an. Natürlich, wieder mal, der Flachwichser grinste. „Es war nicht gut.“ Er blickte zum Fenster. „Wieviel Uhr?“ – „Halb fünf. Morgens.“ – „Warum ist es schon so hell?“ – „Weil es brennt. Irgendwo brennt es wohl.“ – „Wo denn? Warum? Was brennt denn?“ – „Alles.“ – „Wie jetzt?“ – „Billsbeck.“ – „Die ganze Stadt?“ – „Die ganze beschissene Stadt.“ – „Ich ruf jetzt Gitta an.“ – „Tu das.“
Axel streichelte ihm sanft über das Haar. „Armer Gregor. Ich hol dir einen Lappen für deinen Kopf.“ – „Axel?“ – „Hm.“ – „Warum liegt da ein Zylinder in der Ecke.“ – „Da liegt nichts. Träumst du noch?“ – „Hans?“ – „Hm.“ – „Wie macht die fette weiße Made?“
Er sah ihn freundlich an. Rosinenaugen.

„Pffft!“

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28
Dez
09

Karin Reddemann: Atemlos

Gruselgeschichte – Grusel – Spannung – Gänsehaut

Atemlos

© Karin Reddemann

Am 22. September 2002 gegen 03.45 Uhr wurde ich von den Ruhelosen geweckt. Es war, als würde jemand lautlos in mein Gesicht husten, das warm und feucht von Speicheltropfen war, die auf meiner Stirn und meinen Wangen perlten und die der Glaube meiner furchtsamen Ahnen hätte verbieten müssen. Ein Glaube, der nicht wirklich meiner war, weil das blütenweiße Hemd und das silberne Kreuz an der filigranen Kette mich längst schon Heuchlerin nannten. Die Tropfen stiegen mir in die Nase, wie damals, als Großmutter Sauerland in die bestickten Taschentücher spuckte, um mir den Mund abzuwischen, und wie damals hielt ich die Luft an, um den Geruch nicht schmecken zu müssen. Er widerte mich an wie nasse Blumenerde, die seit Wochen im Topf schwappt, um winzige weiße Würmer zu zaubern, die mich würgen lassen. Ich höre sie krabbeln, pumpe Sauerstoff, den ich wie Galle schlucke, möchte sie töten, kann nichts dafür. Ich war allein in dieser Nacht und vermisste keinen flüchtigen Besucher, der sich in mir amüsiert, um mir gönnerhaft seinen Schweiß zu schenken. Der Hund träumte im Flur auf den kühlen Fliesen, über die er im Schlaf seine Pfoten schlittern ließ, schnappte nach taubengroßen Fliegen und fraß sie. Ich gönnte ihm, der Held zu sein, der er nicht war.

Von den Ruhelosen hatte ich gehört, wollte das alles gar nicht wissen. Aber das Datum mit der genauen Uhrzeit habe ich mir notiert, weil ich nicht vergessen wollte, wie es war, als sie kamen. Tatsächlich hatte es sich in meinem Gehirn eingebrannt wie die Telefonnummer eines alten Freundes, die man noch auf dem Totenbett mit verfaulter Zunge stammelt. 2209020345. Kein wirkliches Gottvergibmir. Nur eine Zahlenfolge. Der Priester, den sie gerufen haben, damit ich mich nicht verlaufe, lässt mich brabbeln, fährt mit tröstenden Fingern mechanisch über meine Halbglatze, über einen Kopf wie in kochendem Wasser gebadet. Eine nutzlose, verschrumpelte Kugel, hinter deren mit dickem Gold durchstochenen Ohren vor hundert Jahren lange dunkle Haarsträhnen steckten und auf die Schultern fielen, weil ich eitel und gierig war. Schön wohl auch. Sagten sie. Ich sehe mich alt und eingefallen, sehe, wie der Tod nach mir leckt, lausche, wie mein lausig kleines Herz nach dem Rhythmus der Sonne schreit, die ihn nicht mehr teilen will. Mein Mund ist geöffnet, breit, zu weit, um noch klug wirken zu können, und hinter den Lappen, die wie gekräuselter Rocksaum aussehen, sucht eine gelbe Zunge nach Zähnen, eine totgelbe Zunge, die ich rosarot in Erinnerung habe. Mein muffiger Atem quält sich bis in den Magen des Priesters durch, er lächelt tapfer, der Ekel ist ihm vertraut, diesem schwanzlosen blutleeren Mann, der sich jetzt über mich beugt wie so viele andere zuvor, irgendwann vor Urzeiten, als meine schwarzen Augen noch stachen und meine Lippen Süßigkeiten versprachen. Das Gönnerhafte ist mir fremd, ich hasse ihn und lasse ihn boshaft an verdorbenen Innereien schnuppern, die ich ihm, dem flüsternden Gelackten, in die alles verzeihende blasierte Visage puste. Die letzten Züge, das weiß er vermutlich, riechen immer gleich, immer übel, so gottverflucht übel, obwohl doch die Hölle immer noch vergeblich nach Dir krächzen soll, und er wird mit Johannes sprechen, während er nach Luft schnappt: „Ich lebe. Und Ihr sollt auch leben.“

Wie diese spannende Geschichte weitergeht, erfährst Du in dem Buch

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Karin Reddeman
Gottes kalte Gabe

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