Gruselgeschichte – Grusel – Spannung – Gänsehaut
Nachsitzen
© Christian Poignée
Das Eichhörnchen hatte es bis an das Ende des Astes geschafft. Der Ast bog sich unter seinem Gewicht und wackelte im Wind hin und her. Er konnte förmlich sehen, wie es sich konzentrierte und den Ast des anderen Baumes fixierte. Es waren gut zwei Meter, die es zu überwinden galt. Das Eichhörnchen verlagerte sein Gewicht auf die Hinterbeine, beugte sich vor und …
Klatsch!
Carl schrie auf. Der Rohrstock war mit voller Wucht auf seinen linken Handrücken geknallt. Er fuhr herum und sah in das zornige Gesicht von Mrs. Whimmer. Der Stock wedelte vor seinem Gesicht hin und her. „Wieder einmal am Träumen?“, fragte sie. „Wann wirst du es endlich lernen, dass man in meinem Unterricht nicht verträumt aus dem Fenster zu starren hat? Du bist hier um etwas zu lernen. Und wenn ich es in dich hineinprügeln muss, dann ist das eben so. Aber bei Gott und seinem Sohn Jesus Christus, du wirst es lernen. Und damit ich auch ganz sicher gehen kann, wirst du heute eine Stunde nachsitzen!“
„Eine Stunde?“, entfuhr es Carl.
Wieder hob sich der Rohrstock bedrohlich in die Höhe. „Eine Stunde sagte ich“, zischte Mrs. Whimmer. „Aber wir können es auch gerne auf zwei Stunden erhöhen, wenn du möchtest.“ Sie sah ihn herausfordernd an, doch Carl schüttelte nur den Kopf und starrte auf seinen Tisch hinunter. „Gut. Das wäre dann ja geklärt!“ Sie wandte sich um und ging zurück zur Tafel.
„Eine ganze Stunde!“, dachte Carl. „Und das heute!“ Er hatte doch gleich nach der Schule auf den Fußballplatz gewollt. Ohne ihn würde seine Mannschaft im Revanchespiel gegen die Nachbarklasse bestimmt untergehen. Er schluckte. Alles nur wegen diesem dummen Eichhörnchen! Vorsichtig fuhr er sich mit der rechten Hand über die linke. Dort, wo ihn der Stock erwischt hatte, zeichnete sich ein dunkelroter Strich ab. Die Hand brannte und nur mit Mühe schaffte es Carl, nicht zu weinen. Diesen Triumph wollte er Mrs. Whimmer nicht gönnen. Schlimm genug, dass sie ihn erwischt hatte, aber bestimmt würde er nicht wie ein Mädchen heulen.
Mittlerweile hatte Mrs. Whimmer ein altes, speckiges Schulbuch in die Hand genommen und las der Klasse daraus vor. Der Schmerz in Carls Hand wollte einfach nicht abflauen. So sehr er sie auch massierte, der rote Strich wurde nur noch dunkler und das Pochen von Minute zu Minute schlimmer.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis der Gong ertönte und die Stunde beendet war. Der Klassenraum leerte sich schnell, und bald waren nur noch Mrs. Whimmer und Carl da.
Bei jedem anderen Lehrer hätte Carl die Hoffnung gehabt, dass nach fünf Minuten der Satz käme: „Das soll dir eine Lehre sein. Wir werden heute noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen. Beim nächsten Mal wirst du wirklich nachsitzen, aber jetzt sieh zu, dass du deine Sachen einpackst und verschwindest.“ Die meisten Lehrer hatten Besseres vor, als einem unaufmerksamen Schüler den Nachmittag zu verderben. Nicht aber Mrs. Whimmer.
Die Lehrerin baute sich vor Carl auf und sah auf ihn herunter. Nur wenn die Schüler saßen, war ihr das möglich, denn sie war sehr klein, höchstens einen Meter fünfzig. Der Rohrstock bewegte sich hin und her. Ein Metronom der Schmerzen, ein Pendel der Qual. Carl versuchte, sich auf Mrs. Whimmers Gesicht zu konzentrieren, aber sein Blick glitt immer wieder zu dem Rohrstock und folgte seinen Bewegungen.
…
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Der Füllfederhalter des Grauens
Gruselgeschichten
Der Füllfederhalter eines Toten übermittelt eine unheilvolle Botschaft, für perfide Außerirdische erweist sich gewöhnliche Tinte als pures Gift, der Tod persönlich tauscht seine Sense gegen einen Füller, ein Weltkriegsveteran irgendwo in Russland hat schreckliche Schreibwerkzeuge zu verschenken … Spannende Unterhaltung und subtiler Horror mit Gänsehautgarantie.
Hervorragend geeignet zum Vorlesen auf einer Halloween-Party.
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